Vom Trauma und seinen Komplizen

Es ist zehn vor Zwölf, in zehn Minuten ist Mittagspause. Ich habe Notfalldienst in der Psychiatrie und nehme dich einfach huckepack. Aber bitte komm nur mit, wenn du guter Dinge bist und diese Geschichte verdauen kannst. Das ist ganz wichtig, du musst dir wieder Flügel anlegen, wenn du in Abgründe schauen willst. Ansonsten beendest du hier diesen Text!!!!! Die Sekretärin ist am Telefon und erzählt von Missbrauch und abgehauenem Jugendlichen :/ Dann gehen wir besser mal ans Telefon (Details sind verändert)… Eine Tante ist am Hörer, ihre Nichte sei abgehauen und sie ist ganz aufgelöst am Telefon und erzählt ohne Unterbrechung, der Kugelschreiber fährt Achterbahn und die Papiere füllen sich. Wir erfahren, dass die Nichte ihrer Tante mitgeteilt hatte, dass sie von ihrem Onkel, also dem großen Bruder der Tante im Kindesalter mehrfach sexuell missbraucht worden sei. Die Tante habe ihrer Nichte dann unter Tränen gestanden, dass sie dies ebenfalls erlebt und es bisher noch niemandem erzählt habe. Die Tante habe sich vor Jahren bereits gewundert, warum ihre Nichte nicht zu ihrem Onkel haben gehen wollen und immer im Auto auf die anderen warten wollte. Nach dem Gespräch sei ihre Nichte verschwunden, habe bis auf eine Nachricht jeden Kontakt zur Familie abgebrochen und sie wisse nur, dass sie bei einer „Freundin“ sei, jedoch nicht genau wo…. Wir empfehlen der Tante sich an die Polizei zu wenden, geben ihr die Informationen für eine spezialisierte Beratung für Menschen mit Missbrauchserfahrung und bitten sie sich zu melden, wenn die Nichte aufgetaucht sei… Das Gespräch ist beendet und wir sind erstmal sprachlos, die Mittagspause ist gestrichen *Schluck*. Was haben wir Probleme, wenn wir uns für eine ausgefallene Mittagspause bemitleiden 🙁 Asche über unser Haupt! Leider werden wir nichts mehr von der Familie erfahren und so endet die Geschichte im leeren Raum, wie so viele in der Akutpsychiatrie.

Ist das nicht krass? Die Geschichte ist stark abgewandelt und Jahre her, damit sich niemand darin wieder erkennt, aber die Fragen stehen im Raum, wie riesige Elefanten. Wie konnte das passieren? Wie konnte es innerhalb der Familie zu mehreren Missbrauchsfällen kommen, auch über Generationen hinweg? Und warum kommt es erst so spät heraus? Und schon sind wir mitten im Thema.

Ein Trauma ist eine seelische Verletzung, die durch ein bedrohliches Erlebnis ausgelöst wird, dass unsere Möglichkeiten, das Erlebte zu verarbeiten übersteigt. Es rüttelt an unserem Fundament und es führt zu einer fundamentalen Veränderung unserer „Gedankenschleifen“. Nichts ist danach, wie es davor war! Manche meinen, dass Menschen das Geschehene versuchen zu verdrängen, da es zu groß für eine Bewältigung zu sein scheint.

Das Trauma wird gerade unter Influencern gehypt, was sie so alles „traumatisiert“, da entstehen Geschichten, die sich gut verkaufen lassen. Es erscheint mir aber eher wie Hollywood, als Realität! Denke daran, dass ein Trauma ein großes Wort ist, das wir mit vorsicht verwenden sollten. Zeigen wir damit den „echt“ traumatisierten Menschen Respekt, denn sie haben mehr als einen Orden verdient, für die Arbeit, die sie mit ihrer Traumaverarbeitung leisten!

Hat dich die Geschichte auch aufgerüttelt? Bist du jetzt auch in Wallungen? Dennoch sind wir Zuschauer und das ist wichtig zu verinnerlichen. Wir haben KEINE Ahnung, was IN den Beteiligten vor sich geht. Also, Vorsicht!

Traumatisierte Menschen berichten von ihren Erfahrungen oft erst Jahrzehnte nach dem Ereignis. Wie kommt es, dass es so lange dauert? Stellen wir uns das Trauma wie einen Gangster vor, der sich in unserem Gehirn breit macht. Sein wichtigster Komplize ist die Scham, sie ist der größte Al Capone der Trauma-Gang und hilft dabei, dass Schuldgefühle die Geschehnisse unter den Teppich kehren. Schlimmer noch, manche Betroffene fühlen sich auch noch selbst schuld daran, dass ihr Verursacher des Traumas ein Arschloch ist. So kommt eines zum Anderen und die Gangster breiten sich aus. Ein weiterer Komplize ist die Selbst-Auflösung. Schleichend, wie es Mafiosi anstellen, sorgt sie für das Gefühl, nichts wert zu sein und dieses „Leben verdient“ zu haben. Grundlegende Dinge, wie regelmäßiges Essen, ein sicheres und angstfreies Zuhause werden nicht mehr eingefordert, nach den regelmäßigen Besuchen der Selbstauflösung :/ Ein anderer Komplize der Trauma-Gangster ist das Raudi-Tum. Er sorgt dafür, dass unser Leben so wenig Wert besitzt, dass ein risikoreiches Verhalten ganz einfach wird und manchmal bekommt man dafür sogar Lorbeeren! Ein Komplize ist der Schlaf-Räuber. Er sorgt mit Alp-Träumen und bildlichen Erinnerungen (Flashbacks) dafür, dass es so richtig am Fundament rüttelt. So bringt der Stimmungs-Killer-Türsteher-Gangster die Stimmung in den Keller und die Komplizin der Schreckhaftigkeit hat freie Bahn.

Weitere Komplizen des Traumas aus dem Buch von Paul Conti??

Was können wir also tun, wenn einem Menschen ein Trauma widerfahren ist? Das wichtigste beim Trauma ist, dass wir ein wohlgesonnenes und offenes Klima schaffen, in dem über ALLES geredet werden kann. Wenn die Täter in der Familie sind, wird das besonders schwer, dennoch, alle Begleiter von Kindern und Jugendlichen sind in der Verantwortung ihnen ein Ohr zu schenken und zu zuhören! Entscheidend ist, dass der traumatisierte Mensch jemanden findet, bei dem er das Erlebte verarbeiten kann. Es wird professionelle Hilfe benötigt! Es muss kein spezialisierter Trauma-Experte sein. Alle Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, die ich kenne sind in der Begleitung von Traumafolgen ausgebildet, sie haben es in ihrer Ausbildung gelernt. Und dann wirkt die Beziehung und der geschützte Raum in der Therapie am meisten, die verschiedenen Behandlungsstrategien haben noch einen zusätzlichen Effekt.

Nun organisieren wir ein echtes Gegenüber für die Al Capone-Schlägertruppe des Traumas. Durch Hilfe von außen entdecken traumatisierte Menschen ihre Sherlock-Holmes & Spiderman-Qualitäten und sorgen dafür, dass Al Capone & Co sich in ihrer Garage mit dem Kartenspielen begnügen. Schauen wir uns diese Superpower einmal an.

  1. Sherlock Holmes ist ein Meister darin, schädliche Selbstgespräche zu enttarnen und dem Scham-Gangster bei seinen Schutzgelderpressungsversuchen den Riegel vor zu schieben. Dem Raudi-Gangster nimmt er das Benzin aus dem Tank und dem Stimmungs-Killer-Türsteher-Gangster legt
  2. Spidermans genialer Schutzanzug mit super Vollidioten-Wertlosigkeitsgeschwätz-Filter verhindert die Selbstauflösung und stärkt die Selbstfürsorge. Auch ein Spiderman will gut geschlafen und gegessen haben. Nächtliche Erinnerungen bekommt er dank Super-Spider-Psychiater-Trunk in den Griff. Die Schreckhaftigkeits-Gangsterbraut vertreibt sein solides Spinnennetz.

Wir brauchen Bilder, um die Trauma-Gangsterbande von den Straßen zu vertreiben. Die Heilung vom Trauma benötigt Superhelden, die Scham, Schuldgefühle, Wut und Selbstvorwürfe aus dem Weg räumen. Die Heilung ist möglich und jede Hoffnung darauf berechtigt! Eine Traumatherapie bedeutet, durch ein tiefes Tal der Trauer zu gehen mit einer liebevollen Begleitung. Es ist Licht am anderen Ende des Tunnels!!

Ich möchte dir eine Idee geben, wie das „Fadenkreuz des Lebens“ eine Stütze sein kann, an der sich Betroffene entlang hangeln können. Erinnerst du dich noch an den Beitrag über Emotionen? Da gab es doch ein Kreuz mit zwei Achsen darauf: In der Senkrechte ging es um unseren Erregungszustand (unser „Arousal“) und in der Waagerechte um unsere Bewertung der aktuellen Situation, also positiv oder negativ.

Nun schauen wir uns die Traumatherapie durch das Fadenkreuz des Lebens an. Zu Beginn ist die Person mit Traumaerfahrung in einem „negativ-hoch erregtem Zustand“. Das bedeutet, dass die Person in einer aufgeregten Schockstarre ist, die ganze Welt ihr surreal vorkommt und sie Schamgefühle überkommen. Nun ist das therapeutische Ziel zunächst in einen „negativ-entspannten Zustand“ und aus der Aufregung heraus zu kommen. Studien belegen, dass bereits das Schreiben über traumatische Erfahrungen einen enormen Einfluss auf dessen Verarbeitung hat. Hier kommt die traumatisierte Person mit ihrem Therapeuten durch intensive, aufwühlende Gespräche und Schilderung der Geschehnisse hin und der erste Schritt ist getan. Das Ziel einer Therapie ist es, einen positiv-lebensfähigen Zustand zu erreichen. Es geht nicht darum, die Geschehnisse „schön“ zu reden, sondern seine Lebensqualität zurück zu erlangen und ein erfülltes Leben zu führen.

Und so kommen wir zur U-Kurve der Traumabegleitung:

Der Prozess der Abschwächung wird auch „Dekonditionierung“ genannt. Durch wiederholtes erzählen und aufschreiben wird das Geschehene verarbeitet und es verliert an emotionaler Wucht. Zunächst muss die Anspannung angegangen werden und danach kann der Prozess er Neueinordnung beginnen. Wie lange diese Prozesse dauern ist schwer zu sagen, da es sehr unterschiedlich ist. Geduld ist jedoch die absolut notwendige Zutat und dann ist ein erfülltes Weiterleben möglich.


Mein Fazit:
Trauma ist ein gesellschaftliches Thema und es geht uns alle an (außer vielleicht Influencer, die damit Geld scheffeln wollen). Wir müssen unsere Antennen schärfen, wo es irgendwie möglich ist, Traumata verhindern und wenn sie entstanden sind, sie möglichst schnell entdecken. Mit einer professionellen Hilfe und einem wohlwollenden und geduldigen Umfeld sind auch hier unglaubliche Entwicklungen und ein erfülltes Leben trotz Trauma möglich.

Siehe auch:
Buch:

„Trauma“ von Paul Conti (das ist zu diesem Thema ein Must-Have!!!)

Podcast:

Hubermanlab Interview mit Paul Conti zum Trauma

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